Rückkehr in die Fußstapfen

auf der Straße der Erinnerung

von  Meike Bohn

 

Die Aktion GedenkZug am 8. Mai 2005 in Berlin

 

Zur Erinnerung an das Doppelantlitz des 8. Mai: Mit einem Totenzug von Ausgebombten, Verwundeten und Verschleppten, Kriegsgefangenen, Kriegswaisen und Vertriebenen gedenken Studenten und Schauspielschüler der deutschen Opfer

„Was machen die denn?“ fragt sich Steve Hurst, als er am Mittag des 8. Mai 2005 auf der Straße des 17. Juni einen langen Zug verkleideter Elendsgestalten entdeckt, die sich durch die Berliner Innenstadt schleppen. „14. Juli – Sonderbefehl!“, liest er auf einem mitgeführten Plakat: „Kein Transport wird erlaubt – Jeder Deutsche nur 20 kg Gespäck“. Schweigend, mit stumpfem Blick hält eine junge Frau dem Briten das Bild eines Säuglings entgegen: „Wo ist Uwe?“ kann er entziffern, und: „Ich habe ihn am 22. April auf der nächtlichen Flucht bei Frankfurt/Oder aus den Armen verloren.“ Neben ihr ein alter Mann mit zerzaustem Bart – warum trägt er auf der Rückseite seines schäbigen Mantels ein großes weißes aufgenähtes „N“?* Ein mit zwei Pferden bespannter Wagen zuckelt an Steve Hurst vorüber, dahinter ein junger Mann, die Füße mit Lumpen umwickelt. Ein Kind trägt ein Schild mit dem Schwarz-Weiß-Foto einer Frau um den Hals: „Wo ist meine Mutter?“ steht darauf.

 Zur eigenen Werkschau in der deutschen Hauptstadt angereist, kann der Bildhauer und Historiker den Blick nicht von ihnen lassen: Großmütter mit Kopftüchern und zerbeulten Lederkoffern, kleine Mädchen mit Zöpfen, rucksackbepackt, und Männer auf Krücken mit blutgetränkten Verbänden. Aus bleichen Gesichtern mustern ihn, erschöpft und ausgezehrt, dunkel untermalte Augen; andere starren desillusioniert oder verzweifelt an ihm vorbei ins Leere. Mühselig schieben sie alte Kinderwagen, ziehen quietschende Handkarren mit ihrem letzten Hab und Gut hinter sich her. Autos und Passanten sind stehen geblieben, Taxifahrer wie Touristen zücken Kamera oder Handy, knipsen. „Wir sind die Toten“, vergegenwärtigen ihnen die rund hundert historisch Kostümierten immer wieder – als Opfer des 8. Mai 1945 ziehen sie durch das Nachkriegsberlin.

Veranstalter ist die „Aktion GedenkZug“, eine parteiunabhängige Initiative von Studenten und Schauspielschülern. Das Kriegsende hat für sie zwei Gesichter: „Der 8. Mai hat uns erlöst und vernichtet in einem“, zitiert sie in ihrem Flugblatt den ehemaligen deutschen Bundespräsidenten Theodor Heuss. „Für viele beginnt das Leid erst jetzt“, heißt es darin: „Osteuropa erlebt den stalinistischen Terror... Hunderttausende sterben bei ‚nationalen’ Säuberungswellen in Frankreich... mehr Deutsche werden sterben als im gesamten Krieg.“  Auch um deutsche Opfer dürfe an diesem Tag getrauert werden: „Fast 15 Millionen Deutsche werden vertrieben, Millionen Frauen vergewaltigt,  unzählige Kinder zu Nachkriegswaisen... Millionen leiden als Kriegsgefangene oder in Lagern – insgesamt kommen noch über 5 Millionen Deutsche ums Leben.“ – „Wir sind gegen die gängige Einteilung in politisch korrekte und politisch unkorrekte Opfer“, erklärt Reinhard, einer der Mitveranstalter, „wir wollen nichts ausklammern. Nur eine ganzheitliche, umfassende Erinnerung kann heilend sein“. Mit ein paar Freunden habe der 31jährige vor zwei, drei Monaten zusammengesessen, als einer von ihnen bemerkte: „An dem Tag müßte man eigentlich etwas machen – ein Zeichen setzen, stellvertretend für die Erinnerung von Millionen.“ Ihnen sei plötzlich bewußt geworden: ‚Sechzig Jahre Kriegsende – das ist die Erinnerung einer Generation, die vergeht.’ „Es ist der letzte runde Jahrestag für sie“, sagt der Journalist mit den langen Haaren nachdenklich.

Dies ist nicht ihre erste Aktion: „Als mittelalterliche Gaukler verkleidet, sind wir im Sommer 2003 durch Thüringen gezogen und haben Straßenmusik gemacht und -theater gespielt“, erzählt Ulrich, ein 29jähriger Schauspielschüler, „– zuweilen treten wir auch auf Hochzeiten auf.“ Der Kern der Gruppe kenne sich schon lange.

„Unsere Aktion ist eine Aktion zum Mitmachen“, meint Lara (26). Aus ganz Deutschland seien sie angereist, überwiegend Bekannte und Freunde – „sogar aus Wien“, erzählt die Kunststudentin. Einige seien kurz vorher noch dazugestoßen, nachdem die Aktion im Vorfeld über verschiedene Medien, etwa im Bayerischen Rundfunk, angekündigt worden sei. „Der Zug, dem sich jeder entsprechend Gekleidete anschließen kann, startet am Sonntag um 10.00 Uhr...“, hatte es in der dreisprachigen Pressemitteilung geheißen.

„Wir haben versucht, möglichst authentische Kostüme und Requisiten aufzutreiben – vieles gab es auf Flohmärkten, in Omas Kleiderkiste oder bei Ebay“, ergänzt die 27jährige Marie. „Was fehlte, haben wir über Spenden finanziert. Aus unserem Fundus haben wir dann alle versorgt, die mitmachen wollten, aber unzureichend kostümiert waren.“ Alle wurden weißgeschminkt und mit Mehl bestäubt. „Einige Requisiten sind übrigens original von der Flucht“, bemerkt die Gießener Germanistikstudentin mit den dunkelblonden Zöpfen, „die Bollerwagen zum Beispiel, und auch der große Leiterwagen: er kommt anschließend ins Ostpreußische Landesmuseum in Lüneburg – sein Bremer Besitzer hat ihn uns zur Verfügung gestellt.“ ‚Franz Schützler, Wilhelmsbruch, Kreis Elchniederung, Ostpreußen’, steht auf der Plakette.

Von Osten aus, vom Checkpoint Charlie über den Potsdamer Platz, ziehen sie zum offiziellen Fest des Berliner Senats am Brandenburger Tor. Hier feiert man – als Tag der Befreiung – mit Hüpfburgen und Imbißbuden den ‚Tag für Demokratie’. Das Festgelände ist von Polizisten umstellt; diese stoppen den Zug. Doch er ist angemeldet – als offizieller Festteilnehmer. Dennoch – die Festleitung wolle einen Zusammenstoß mit Andersdenkenden vermeiden, wird ihnen beschieden. „Schämt ihr euch nicht, wie ihr hier herumlauft!“ empört sich eine Mittvierzigerin. Schon scheint alles vorbei zu sein. Da setzen die Polizisten an der Spitze, die den Zug seit dem Aufbruch begleitet haben, sich für ‚ihre’ Demonstranten ein. Und nun erlaubt die Festbewachung die Passage, aber – aus Sicherheitsgründen: „jeweils nur fünf, und nicht der Pferdewagen!“ Der soll am anderen Ende auf die Kleingruppen warten. Von der Masse geschluckt, sind sie durch ihr langsames Marschtempo jedoch bald wieder zur Kolonne vereint – inmitten des bierseligen „Volksfestes“, das als Abwehrmaßnahme gegen die kurzfristig verbotene NPD-Demonstration auf dieser Strecke eingerichtet worden ist: Die CDU verschenkt Gummibärchen, die Gruppe „hiergeblieben!“ wirbt für das Bleiberecht von [ausländischen] Kindern, Jugendlichen und Familien in Deutschland, die SPD verteilt Prospekte für die Europäische Verfassung („Europa wird bürgernäher, handlungsfähiger, transparenter“). Aus Protest gegen die am Alexanderplatz versammelten NPD-Anhänger tragen viele Menschen bunte Anstecker. Anstecker mit intelligenten Sprüchen wie „Stark gegen rechts“, „Gesicht zeigen“, „Braune Flaschen zum Altglas“, „Kein Sex mit Nazis“ oder – über der Abbildung eines dampfenden Haufens – „Braun ist...“.

Von einer Thematisierung des 8. Mai 1945 ist wenig zu spüren; allein Aktionsgruppen wie die der „Himmlischen Vier“ danken den Alliierten „für die Befreiung vom Hitlerfaschismus“ allerorts schriftlich. Zwischen den Ständen von Parteien, Gewerkschaften und Gruppierungen wie „Hände gegen Rechts“ und „Stolpersteine“ kämpft der GedenkZug sich vorwärts – und regt zum Nachdenken an. „Seid ihr von einer Vertriebenenorganisation – oder ist das Kunst?!“ fragt eine Frau, einen Strauß Luftballons des DGB in der Hand, irritiert. Nicht jeder begreift, was der Zug darstellen soll: „Aus welcher Zeit kommt ihr denn?“ ruft ein junger Turkdeutscher bei ihrem Anblick, „von 1700, oder was?!“  Die meisten Zuschauer zeigen sich fasziniert: „Fast wie echt“. Eine Gruppe bosnischer Flüchtlingsfrauen schlendert über das Fest; kaum werden sie des Zuges gewahr, brechen sie in lautes Weinen aus, verharren fassungslos. „Das ist ‚Geschichte zum Anfassen’ – besser als Guido Knopp“, meint ein junger Mann, „das macht richtig Eindruck.“ „Es war richtig, daß die  Deutschen vertrieben wurden!“ oder „Was wollt ihr darstellen – Opfer?! Kommt ja nie wieder nach Hause!“ bleiben vereinzelte Zwischenrufe. Man sieht Rentner mit Tränen in den Augen. „Noch Stunden später, als wir vereinzelt durch Berlin gingen, sprachen Leute uns an: sie hätten eine Gänsehaut, einen Schauder empfunden, als wir an ihnen vorbeizogen“, erinnert sich Marie rückblickend. Eine Gruppe Radfahrer, unterwegs zum Sonntagsausflug, sieht den Zug, stoppt an einer Ampel: Da löst sich eine Frau von den Ausflüglern und fährt auf die Verkleideten zu. „Weinend hat sie mich umarmt“, erzählt Ulrich, einer der Organisatoren, „und sich bei mir bedankt – dafür, daß wir an diese Schicksale erinnert haben.“ Daß sie ihr Ziel – „die ‚Stunde Null’ noch einmal lebendig und damit auch für diejenigen begreifbar zu machen, welche die Ereignisse jener Tage nicht selbst miterlebt haben“ – erreicht haben, bestätigt die Aussage einer Betrachterin: „In dem Moment habe ich mich gefragt, wie es wohl wäre, eines Tages selbst einmal Flüchtling zu sein“, erinnert sich die junge Frau; nachdenklich schultert sie ihre Stofftasche mit der Aufschrift „Neues Deutschland“.

Vor der Siegessäule endet der Zug – mit einem Lied. Der jäh einsetzende Regenschauer kann niemandem etwas anhaben, alle sind zufrieden – nicht zuletzt über das Medienecho. „Auch international fand unsere Aktion Beachtung“, wird Reinhard später berichten, „neben vielen deutschen Zeitungen hat uns zum Beispiel ‚Le Monde’ abgebildet, und Freunde aus Südamerika haben uns im Fernsehen gesehen.“

Jeder, Beteiligte wie Polizisten, bekommt einen Schlag Erbsensuppe aus der Gulaschkanone. „Ich kann allen nur Mut machen, einmal etwas Ähnliches zu verwirklichen“, faßt der Norddeutsche zusammen,  „wir haben die Strecke ganz leicht bekommen. Die Polizei verhielt sich vorbildlich – sie fand die Aktion prima.“

Die zahlreichen jungen Familien mit kleinen Kindern sind erleichtert: Nichts ist passiert. „In erster Linie war es ja ein ziviler Treck, kein Zug flüchtender Soldaten“, meint Thomas, ein blonder Schwabe. Dennoch hätten manche mit Angriffen der Zuschauer gerechnet. Er selbst habe sich Sorgen gemacht, daß sein Ältester, acht Jahre alt, beschimpft und psychisch zu Schaden kommen könnte. „Ich habe mir aber trotzdem gesagt,“ bekundet der junge Filmemacher: „Mit der ganzen Familie ein Zeichen setzen – vor den Augen all derer, die feiern und gar keine Ahnung haben!“

Anders als all die kollektivistischen Politikerreden an diesem Wochenende hat die Aktion GedenkZug die Einzelschicksale der Menschen jener Zeit vor 60 Jahren in den Mittelpunkt gestellt. Während die Staatsfeiern eine Menge Steuergelder gekostet haben, kam sie zustande durch das tatkräftige Engagement vieler einzelner, die sich gegenseitig aushalfen, ohne einen Pfennig dafür zu bekommen. Ihr Agieren war freiwillig und gemeinnützig; es geschah im bewußtem Gegensatz zu den staatlicherseits verordneten 8.-Mai-Feiern, die unter dem Motto standen: „Wir sind so froh, endlich befreit worden zu sein“, mit einer großangelegten Statisterie an – so schien es zumindest – vermeintlichen Jubelpersern. Während ein Großteil der Bürger bei den spürbar sinnentleerten und aufgesetzt wirkenden Staatsfesten nur dem Alkohol frönte, haben die Aktionskünstler die Leute zu Tränen gerührt.

Eine Woche später erhält die Gruppe Post aus England. „Ich war 13, als der Krieg in Europa endete, so daß die Erinnerungen an die Bomben, das Frieren und die Rationierungen sowie an viele furchtbare Zugreisen unter Kriegsbedingungen mir immer noch sehr klar im Gedächtnis sind – ja, sie werden sogar immer realer, je näher das Alter auf mich zurückt“, schreibt ihnen Steve Hurst. „Als Europäer – nicht als Engländer oder Ire oder Franzose oder Deutscher – betrachte ich das schreckliche Leid des 20. Jahrhunderts als einen Bürgerkrieg oder Bruderkampf. In Europa gab es keine Sieger – nur Tod, Elend und Zerstörung. Statt Freiheit erwartete Europa 1945 die Aufteilung in zwei Machtblöcke.“ Als „Zeuge der außergewöhnlichen Erscheinung der Vertriebenen des Europa von 1945“, die sich vor seinen Augen abgespielt habe, schicke er eine Sammlung von Skizzen: „Ich habe die Gelegenheit, das, was mir wie ein Geisterzug erschien, zu zeichnen, sehr geschätzt.“

 

Die Skizzen des Gedenkzugs von Steve Hurst

Weitere Aktionen sind geplant. 

Kontakt:

E-Post: Mahnzug@gmx.de

Telefon: 0173 / 795 80 99

* N = niemec [tschech. für „Deutscher“]

 

Meike Bohn:

Jg. 1976, schreibt Einführungen für die Buchreihe „Die vergessene Bibliothek“ (zuletzt zu Siegfried von Vegesacks „Die baltische Tragödie“, V.F. Sammler, Graz 2004). Im Sommer 2005 erscheint ihr Literaturkalender „Totenmasken deutscher Dichter und Denker 2006“ (Edition Antaios).