© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co. www.jungefreiheit.de 20/05 13. Mai 2005
"Wir sind die Toten"
Kriegsende I: Junge Leute machen in Berlin mit einem spektakulären Gedenkzug auf das deutsche Leid am 8. Mai 1945 aufmerksam
Moritz Schwarz
Ich habe eine richtige Gänsehaut", wispert die alte Dame am Straßenrand. Sie blickt dorthin, woher das Schweigen kommt: auf die graue Kolonne hoffnungsloser Gestalten, die an diesem klarsonnigen Maisonntag durch Berlins Mitte zieht. Männer, Frauen und Kinder, manche davon mit Verbänden, aus denen "blutige" Watte quillt, auf Krücken, hinkend, mit zerschlagenen bandagierten Gliedern, beladen mit Koffern, Beuteln, Bündeln und Rücksäcken. "Wir sind die Toten", erklärt eine der trostlosen Gestalten auf die Nachfrage von Passanten, was es mit dem schauerlichen Umzug auf sich hat: "Wir sind die Opfer des 8. Mai 1945."
Rund hundert überwiegend junge Leute hatten sich am Morgen versammelt - geschminkt, angezogen und ausgestattet wie deutsche Flüchtlinge 1945 -, um an die "andere Seite" der Kapitulation vor 60 Jahren zu erinnern: "Denn für viele begann das Leid erst jetzt", teilt man per Flugblatt mit. "Osteuropa erlebte den stalinistischen Terror ... Hunderttausende starben bei 'nationalen' Säuberungswellen in Frankreich ... Fast 15 Millionen Deutsche wurden vertrieben, zwei Millionen Frauen vergewaltigt, unzählige gingen in Kriegsgefangenschaft - insgesamt kamen noch über fünf Millionen Deutsche ums Leben."
Als Veranstalter firmiert eine "Aktion Gedenkzug", die sich selbst als "parteiunabhängige Initiative von Studenten und Schauspielschülern" beschreibt und nur über Netzadresse und Mobiltelefon zu erreichen ist. Maike, 28, Teilnehmerin der Aktion, erklärt: "Wir haben Freunde und Bekannte mobilisiert. Die Teilnehmer sind aus ganz Deutschland angereist, sogar aus Wien." Jeder habe Keller, Dachböden und Flohmärkte durchforstet, um adäquate Kleidung zu finden. Die Veranstalter haben zudem einen Fundus angelegt, um all jenen auszuhelfen, die am Sonntag nur unzureichend kostümiert angereist sind. Die meisten Gesichter sind geschminkt, eine dünne weiße Farbschicht und blau untermalte Augen lassen sie bleich und ausgezehrt erscheinen. Darüber bei manchen rot durchtränkte Verbände. Ganze Familien sind gekommen, junge Familien mit Kindern, erstaunlich vielen Kindern. Sie tragen sie auf dem Arm, ziehen sie in Leiter- und Boller- oder schieben sie in Kinderwagen. Eine junge Frau gibt ihrem Kleinkind vor aller Augen Milch, eine alte Frau sitzt in einer Pause erschöpft auf der Erde und kaut einen Kanten Brot. Besonders stolz ist man auf ein Pferdegespann: Das historische Gefährt stammt aus dem Ostpreußischen Landesmuseum in Lüneburg, mit ihm haben sich vor 60 Jahren tatsächlich Deutsche nach Westen gerettet. "Unsere Kosten decken wir durch Spenden", so Reinhart, 31, einer der Organisatoren.
Zwar geht der Zug mitten durch Berlin, vom Checkpoint Charlie übers Brandenburger Tor bis auf die Straße des 17. Juni, doch fast überall ist es hier sonntags menschenleer. Da fallen einige "Antifaschisten" besonders auf: "Vertreibt die Vertriebenen!" schreien sie drohend.
Dann nähert sich der Zug dem Platz des 18. März, wo ein "breites Bürgerbündnis" vor dem Brandenburger Tor den "Tag der Demokratie" und der "Befreiung" feiert. Dort ist das Ende des Millionensterbens 1945 ein buntes Volksfest mit Bratwurst, Bier und lauter Musik. Die Spannung steigt: Wie werden die Feierlaunigen reagieren, wenn ihnen Tod, Leid und Grauen entgegentritt? Doch die Polizei stoppt den Zug. Aus Sicherheitsgründen darf der Platz nicht geschlossen passiert werden. Und tatsächlich erweist sich der Platz als überfüllt - die Masse schluckt die versprengte Schar, die meisten Festbesucher bekommen von den Elendsgestalten nichts mit.
Die, die Notiz nehmen, sind dafür wie gebannt. Fast einhellig stößt man bei Flaneuren auf Zustimmung: "Das ist besser als Guido Knopp", meint ein junger Mann, "das macht richtig Eindruck". Vereinzelt sieht man Zuschauer in Tränen ausbrechen. "Eine wildfremde Frau hat mich weinend umarmt", berichtet Ulrich, 29, einer der Mitveranstalter, "und sich bei mir dafür bedankt, daß wir diese Schicksale nicht in Vergessenheit geraten lassen". Am Ende hat man zwanzig Presseinterviews gegeben: zehn Zeitungen, acht Fernseh- und zwei Radiosendern. Eine chinesische Zeitung schießt Fotos, ein mexikanisches Kamerateam filmt. Am Abend wird man sich außerdem über einen Anruf aus Kolumbien freuen, Freunde haben dort in der Deutschen Welle von der Aktion erfahren. Auf dem Heimweg werden Teilnehmer von "Antifaschisten" angegriffen, entgehen durch Flucht knapp der Prügel, die "Antifaschisten" zerstören oder klauen, was dabei zurückgelassen werden muß.
Mehr aber betrübt die zynische Analogie, für die der Zufall sorgt. Kaum hat der Treck sich am Ende der Straße des 17. Juni aufgelöst, rollt eine Kolonne fahnengeschmückter sowjetischer Militärfahrzeuge dröhnend vorbei (siehe Bericht unten). In bitterer Symbolik findet so auch der Treck 2005 das Ende, das so viele deutsche Trecks 1945 gefunden haben: unter Rädern und Ketten der Roten Armee.
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